Eine Betrachtung von Stadthistoriker Wilhelm Frank
Es war einmal ein Schlossermeister in unserer Stadt. Er war ein kluger und gescheiter Mann und hatte einen „hellen“ Kopf. Er war auch ein sehr tüchtiger Mann, denn er hatte geschickte und fleißige Hände, unter welchen das Eisen, das er auf Esse und Amboss legte, jegliche Gestalt annahm, die er nur wollte. Schwere Eisenrahmen sowohl als auch feingliederige Schlüssel, Bolzen und Schrauben, Türrahmen und eiserne Ofenrohre und was man von einem Schlosser eben alles brauchte, konnte er machen. Aber er konnte das Eisen auch zu feinen Ranken und Spiralen biegen, Rosen- und Arkantus-Blätter formen, zierliche Laternen fertigen, kostbare Sakristeitüren und herrliche Eisengitter schmieden. Sogar das Antlitz berühmter Männer konnte er in Eisen oder Kupfer treiben. Er war aber auch ein Sarkast, das heißt, er konnte mit bitterem Hohn, so wie es vor Zeiten Demosthenes und Cicero getan haben, die Stärke und die Schwächen seiner Mitmenschen rühmen oder geißeln, wie er es gerade für richtig hielt. Er stand früh auf und schaute, ob auch andere ihre Arbeit anfingen, und ehe er sich schlafen legte, konnte er jedermann, der es hören wollte, sagen, wie viel Steuergelder am Tage sinnlos vertan waren. Aber jeder, der eine gute Arbeit verrichtet haben wollte, ging zu diesem Meister.
Vor wenigen Monaten hat er für das Rathaus in Crailsheim eine riesige eiserne Gittertüre und für den Rathausturm ein schweres eisernes Geländer gemacht, damit man nun auch wieder einmal auf den Turm steigen kann, ohne schwindelig zu werden. Als beide Arbeiten fertig waren, legte er sich hin und starb, ohne dass das eigentlich nötig gewesen wäre, denn, um mit der Bibel zu sprechen, war er weder siebzig noch achtzig Jahre alt. Allerdings muss sein Leben köstlich gewesen sein, denn es war Mühe und Arbeit.
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Es war vor wenigen Tagen, da versammelte sich vor dem Rathausturm eine große Menschenmenge. Alle wollten sehen, wie ein riesiger Montagekran aufgerichtet wurde, mit dessen Hilfe man das eiserne Geländer, das der Meister noch gemacht hatte, auf den Turm schaffen wollte, um es dort wieder anzubringen. Es geschah auch so. Die zusahen, waren froh, als das letzte der vier Teile hinaufgehievt war, denn die Arbeit muss sehr schwer gewesen sein. Auch die Stadträte, die gerade eine Sitzung hatten, sahen der schweren Arbeit zu und waren auch froh, dass alles gut ging; sie hatten ja dazu den Auftrag gegeben. Als der Kran wieder abmontiert wurde, gingen die Leute wieder heim. Die Stadträte tagten weiter, denn gewöhnliche Arbeit ist nicht attraktiv. Plötzlich hörte man lautes Getöse, den Schrei eines Mannes und spürte eine starke Erschütterung. Ein schwerer Montageteil war umgefallen, hatte den Fuß eines Helfers getroffen und ihn übel zugerichtet.
Im gleichen Augenblick lief die erste Hilfe an. Die Monteure befreiten den Stöhnenden von der eisernen Last. Ein Kamerad zog ihm den Schuh und Strumpf aus und entsetzte sich über das viele Blut, andere wurden bleich, als sie die große Wunde sahen. Auch die Stadträte traten in Aktion. Einige rannten zum Telefon, andere riefen ihnen nach, was zu tun wäre. Zwei gingen gleich an die Unfallstelle. Der Ältere sprach dem Verletzten Mut zu und sagte, der Sanka werde gleich kommen und ihn abholen. Der Jüngere lief zu Seinem Wagen, entnahm den Unfallkasten, und als er die erste sterile Binde in den Händen hatte, stand schon ein Arzt bereit, der als Passant die Unfallstelle entdeckt hatte, und verband die Wunde sachgerecht. In Kürze war der Verwundete im Krankenhaus und alles wieder in Ordnung, bis auf den verletzten Fuß, der nun erst wieder in Ordnung gebracht werden muss. So einfach liegen die Dinge in der „guten neuen Zeit“.
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Es war einmal ein strahlender schöner Freitagmorgen in einer düsteren, schweren Zeit Die Wintersonne glänzte am tiefdunkelblauen Himmel, und in der Stadt herrschte lebhafter Verkehr. Es war Schweinemarkt, weshalb viele Landleute in die Stadt gekommen waren. Aber die Schönheit dieses Morgens war nicht imstande, die tiefe Apathie zu vertreiben, die auf den Gemütern der Menschen lag. Jedermann spürte, dass ein Verhängnis im Anzug wäre.
Es begann gegen 10.30 Uhr, als plötzlich über der Stadt Kondensstreifen in der Form einer riesigen Acht zu sehen waren und östlich der Stadt Rauchsignale, untermischt mit roten Leuchtkugeln, ausgemacht werden konnten. Die Fremdarbeiter in der Stadt, nicht gekommen um zu verdienen, sondern um zu helfen, den Endsieg zu beschleunigen, allerdings für die andern, wussten über den Sinn der weißen Acht Bescheid und verließen die Stadt, mit ihnen der größte Teil’ der Bevölkerung. Um 10.40 Uhr ertönte Fliegeralarm. Auf dem Stadtturm war eine Beobachtungsstelle eingerichtet, die mit Beginn der öffentlichen Luftwarnung vom Polizeileutnant und zwei jugendlichen Meldern besetzt wurde. Als sie ihre Posten eingenommen hatten, sahen sie einen Bomberverband mit Kurs auf Südwest fliegen — an der Stadt vorbei. Dann wurden weitere Verbände sichtbar, genau auf Westkurs, auf die Stadt zu. Der ältere Wächter konnte den Beginn des Angriffs noch weitermelden und hörte auch schon das Sausen der ausgelösten Bomben über sich. Es gelang ihm noch, den Hörer in der Hand, an einem eisernen Turmhaken sich festzuhalten. Dem Sausen folgte ein Prasseln, dem Prasseln die Detonationen, eine unmittelbar über ihm. Der Turm schwankte, Trümmer und Quadersteine flogen durch die Luft, das eiserne Geländer wurde mit in die Tiefe gerissen, Teile von ihm ragten wie dürre Äste aus den Trümmern heraus.
Als Rauch und Staub sich verzogen hatten, war der Ältere der Wächter eingeklemmt zwischen Steine, der eine der jungen zwischen dem Rest der Turmwand und dem Blitzableiter, der andere hing an dem frei in die Luft hinausragenden Rest des Eisernen Geländers. Der Ältere konnte sich leidlich befreien, wagte über die Trümmer kriechend einen Blick ins Innere des Turmes. Er musste schaudernd feststellen, dass der Turm bis in die Tiefe hinunter völlig leer war und dass sie nur abgeseilt werden konnten.
Zuvor aber mussten die drei Wackeren noch die Hölle über sich hereinbrechen sehen, denn jetzt erst erfolgte der Hauptangriff auf den Bahnhof, dessen Gewalt unbeschreiblich war. Dichter Qualm überdeckte die Stadt und brachte eine unheimliche Finsternis mit sich; dazwischen flogen Eisenbahnschienen durch die Luft. In der Stadt hatten sich an vielen Stellen Brände entwickelt, deren Lohe der Turm umtobte. Niemand konnte helfen.
Eine halbe Stunde nach dem letzten Bombenwurf erschienen die ersten Leute auf den Straßen, vermutlich vom Technischen Notdienst, aber eine Verständigung zwischen Turm und Straße war unmöglich. Endlich hörte man Feuerwehrsignale auswärtiger Wehren. Nach der Entwarnung begannen auch die Lösch- und Bergungsarbeiten.
Kurz nach 15 Uhr erschien wie ein rettender Engel bei den Verschütteten auf dem Turm ein Schlossermeister, begleitet von einem Fliegerhorst-Soldaten, und begannen mit den Bergungsarbeiten. Zuerst wurde der eingeklemmte Wächter befreit, dann der am überstehenden Geländer Hängende, der nur noch schwache Lebenszeichen gab. Beide wurden abgeseilt. Der Ältere der drei konnte mit Aufbietung seiner letzten Kräfte und unter schweren Schmerzen selbst über die Leitern absteigen.
Nachher hat er einen Bericht gegeben und schrieb: „Die Haltung des Schlossermeisters und des Soldaten vom Fliegerhorst sind über jedes Lob erhaben. Die Arbeit des Abseilens aus den losen Schuttmassen heraus war ein gefährliches Stück Arbeit, weil sie ohne jedes Hilfsmittel mit den bloßen Händen getan werden musste. Ein leichtes Nachgeben der Trümmer hätte genügt, um alle abstürzen zu lassen.“
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Nun gibt ein neues Geländer wieder Sicherheit und Halt dort oben auf dem Turm. Der Meister, der es fertigte, hieß Hermann Seybold, seine einstige Mithilfe bei der Rettung der Turmposten Joseph Binder aus Pfaffenhofen am Inn, gefallen im April 1945 bei Oldenburg. Von den anderen Mithelfern kennen wir die Namen Narr, Wolf, Berger und Pratz.
Wohl einer Stadt, die in schweren Tagen solch ehrenhafte Handwerker und treue Soldaten hatte. Bewacher und Beschützer!
Symbolisch sollte das Wappen der Stadt, das über der Türe zum Rathauseingang stehen soll, von einem Hüter und Wächter gehalten werden. Aber wir sind In der Geschäftigkeit unserer Tage nüchterner geworden. Es kann auch das Wappen ohne Attribut seine Aussage machen.
Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Hohenloher Tagblatts
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